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Ärztliche Kooperationsformen nach geltendem Recht

Teil 10: Integrierte Versorgung

Die Serie „Ärztliche Kooperationsformen” endet mit diesem Beitrag über die integrierte Versorgung. Die integrierte Versorgung beinhaltet eine gesetzliche Ausnahme von dem regelmäßigen Verbot, die Vergütung für medizinische Leistungen – insbesondere für Krankenhausleistungen und die Leistungen anderer medizinischer Leistungserbringer – frei zu verhandeln. Nicht nur für die Krankenkassen, vielmehr für sämtliche an der integrierten Versorgung beteiligten Leistungserbringer ergeben sich hieraus attraktive und wirtschaftlich gewinnbringende Chancen.

Nach § l40a SGB V ist es den Krankenkassen gestattet, mit im Gesetz im Einzelnen definierten Vertragspartnern „Verträge über eine verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung der Versicherten oder über eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung abzuschließen”. Leistungserbringer und Vertragspartner der Krankenkassen können  – verkürzt dargestellt – Ärzte und Kooperationen von Ärzten, Träger zugelassener Krankenhäuser und weiterer medizinischer Einrichtungen, Träger von Medizinischen Versorgungszentren, Träger von Einrichtungen, die eine integrierte Versorgung anbieten, etwa Managementgesellschaften, Pflegekassen und Pflegeeinrichtungen, Gemeinschaften der vorgenannten Leistungsbringer sowie Praxiskliniken sein.

Die Verträge sollen nach dem Gesetz eine „bevölkerungsbezogene Flächendeckung” der Versorgung ermöglichen. In den Verträgen müssen sich die Vertragspartner der Krankenkassen zu einer qualitätsgesicherten, wirksamen, ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung der Versicherten verpflichten. Die Leistungserbringer müssen die Gewähr dafür übernehmen, dass sie die organisatorischen, betriebswirtschaftlichen sowie die medizinischen und medizintechnischen Voraussetzungen für die vereinbarte integrierte Versorgung entsprechend dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und des medizinischen Fortschritts erfüllen. Ferner muss der Vertrag über die integrierte Versorgung Regelungen über die ordnungsgemäße Zusammenarbeit der Leistungserbringer enthalten. Die Teilnehmer der integrierten Versorgungsform müssen sich schriftlich zu einer ausreichenden Dokumentation verpflichten.

Zweck der Regelung

Der Gesetzgeber bezweckt mit den bereits mit Wirkung ab dem Jahr 2000 eingeführten Regelungen über die integrierte Versorgung eine stärker an den Versorgungsbedürfnissen der Patienten orientierte Verbesserung von deren Behandlung. Durch die möglich gewordene Kooperation zwischen Haus- und Fachärzten, zwischen ärztlichen und nicht ärztlichen Leistungserbringern sowie zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich soll nach dem Willen des Gesetzgebers eine Aktivierung von Produktionsfortschritten im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung erreicht werden. Ziele sind weiter die Vermeidung von Mehrfachuntersuchungen sowie die Mobilisierung von Einsparmöglichkeiten und Wirtschaftlichkeitsreserven. Von besonderem Interesse ist auch die vom Gesetzgeber seit dem Jahr 2004 vorgenommene Ausschaltung der Einflussnahmemöglichkeit der Kassenärztlichen Vereinigungen auf die Gestaltung der integrierten Versorgung. Der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen ist nach ausdrücklicher gesetzgeberischer Anordnung eingeschränkt. Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben weder bei Abschluss der Einzelverträge noch bei Rahmenverträgen irgendeine Einflussmöglichkeit auf den Inhalt, die Gestaltung oder die Vergütung der Verträge. Nach § 140c SGB V ist eine Regelung zulässig, die von der ansonsten im ärztlichen Vergütungsrecht vorgeschriebenen Einheitlichkeit des Entgelts für alle Patienten abweicht. Für die Krankenkassen ist die integrierte Versorgung — abgesehen von individuell zu vereinbarenden Fallpauschalen und Zusatzentgelten — das derzeit einzige legale Instrument, freie Preise mit den an einem integrierten Versorgungsmodell teilnehmenden Leistungserbringern zu vereinbaren.

Urteil des Bundessozialgerichts

Als spektakulär darf ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 6. Februar 2008 bezeichnet werden, welches sich mit dem „Barmer Hausarztvertrag” auseinandersetzt. Da das Urteil sehr deutliche und grundsätzliche Ausführungen zum Wesen der integrierten Versorgung macht, wird es nachfolgend recht ausführlich wiedergegeben.

Die Barmer Ersatzkasse hatte mit der „Marketinggesellschaft Deutscher Apotheker mbH” und der „hausärztlichen Vertragsgemeinschaft” einen „Integrationsvertrag” geschlossen. Nach dem Vertrag hatten die Versicherten der Barmer Ersatzkasse die Möglichkeit, sich freiwillig aus einer von der Barmer Ersatzkasse zu erstellenden Liste einen Hausarzt auszuwählen und Fachärzte nur auf Überweisung von diesem in Anspruch zu nehmen. Zur Gewährleistung der vertraglich angestrebten Arzneimittelsicherheit hatte sich der Patient zu verpflichten, vor Ort Arzneimittel ausschließlich in der gewählten Hausapotheke abzunehmen. Für die Mitwirkung an dem Vertrag erhielt der teilnehmende Hausarzt eine Einschreibepauschale von gut 15 Euro, ferner eine Integrationspauschale von gut 5 Euro pro Quartal im ersten Jahr der Teilnahme, eine Integrationspauschale von gut 20 Euro für jedes weitere Jahr der Teilnahme des Versicherten sowie gut 35 Euro für einen jährlichen Präventions-Check und gut 16 Euro im Falle der Anforderung und Auswertung des Medikationskontos der Krankenkasse. Die teilnehmende Apotheke erhielt eine „Apothekenintegrationspauschale” von 8 Euro pro Quartal auf jeden Fall der Kommunikation mit einem teilnehmenden Hausarzt, wobei die Abrechnung dieser Leistung auf 10% der in der Apotheke am letzten Tag des Quartals eingeschriebenen Versicherten beschränkt war. Im Übrigen sollten die teilnehmenden Hausärzte und Apotheken an den realisierten Einsparungen für Arzneimittel und andere veranlasste Leistungen ab dem 2. Jahr der Teilnahme des Versicherten beteiligt werden.

Das Bundessozialgericht stellte höchstinstanzlich fest, dass es sich bei dem Vertrag nicht um einen Vertrag zur integrierten Versorgung im Rechtssinne handelte. Das Merkmal „interdisziplinär-fachübergreifend” sei nicht gegeben, weil an dem Vertrag ausschließlich dem hausärztlichen Versorgungsbereich zugehörige Ärzte beteiligt gewesen seien. Auch hatte das Bundessozialgericht Zweifel daran, ob eine Leistungssektoren übergreifende Versorgung gegeben sei. Letztlich blieb diese Frage jedoch offen. Der Vertrag stelle sich jedenfalls nicht als Vertrag zur integrierten Versorgung dar, weil er mit seinen integrativen Elementen im Wesentlichen innerhalb der Regelversorgung verbleibe. Damit erfülle er die aus Zielsetzung und gesetzlicher Ausgestaltung der integrierten Versorgung abzuleitende Voraussetzung, dass Leistungen der Regelversorgung ersetzt werden müssten, nicht. Der Begriff der „Leistungssektoren übergreifenden Versorgung” ist nach dem Bundessozialgericht funktionell zu bestimmen. Ausgangspunkt soll jeweils das Leistungsgeschehen und dessen inhaltlicher Schwerpunkt sein. „Übergreifend” ist dementsprechend nach dem Bundessozialgericht eine Versorgung, die Leistungsprozesse, die in der traditionellen Versorgung inhaltlich und institutionell getrennt sind, nunmehr verknüpft. Dies ist nach dem Bundessozialgericht beispielsweise der Fall bei einer Operation — zum Beispiel bei der Implantation eines neuen Gelenks — und der anschließenden Rehabilitation. Diese Leistungssektoren dienen nach dem Bundessozialgericht unterschiedlichen medizinischen Zwecken und sind in der Regelversorgung auch institutionell getrennt. In einem derartigen Fall ist daher der Abschluss eines integrierten Versorgungsvertrages zulässig.

Als wichtigsten Anwendungsfall einer die verschiedenen Leistungssektoren übergreifenden Versorgung ist für das Bundessozialgericht eine Versorgung, die ambulante und stationäre Behandlungen umfasst. Ähnlich wurde bereits in der Gesetzesbegründung auf die anzustrebende Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung hingewiesen. Diese Auffassung wird vom Bundessozialgericht geteilt. Aber auch ein integriertes Versorgungsangebot unter Verzahnung von ambulantem Operieren und anschließender rehabilitativer Versorgung wird vom Bundessozialgericht als integriertes Versorgungsangebot akzeptiert. Das Gericht hebt auch ausdrücklich die Ziele der integrierten Versorgung hervor: Die Vermeidung von unnötigen Doppeluntersuchungen, von Koordinationsproblemen im Behandlungsablauf und von Wartezeiten.

Vertragsgestaltung

Verträge der integrierten Versorgung werden regelmäßig von den Krankenkassen als „Musterverträge” erstellt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass für die beteiligten Leistungserbringer kein Verhandlungsspielraum gegeben wäre. Insbesondere nachfolgende Inhalte sind im Regelfall Bestandteile der Vertragswerke:

Zielsetzung des Vertrages, Leistungspflichten der Vertragspartner und Behandlungsablauf, Teilnahmevoraussetzung und Einschreibung der Versicherten, konkrete Aufgaben der Leistungserbringer, Vergütung, Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement, Haftung und Versicherungsschutz, Dokumentation, Vertragslaufzeit und Kündigung, Datenschutz und Organisation.

Die Ausgestaltung der vertraglichen Regelungen im Einzelnen bedarf stets der Einschaltung von mit entsprechender Expertise ausgewiesenen Fachleuten, insbesondere von betriebswirtschaftlichen Beratern und Rechtsanwälten.

Fazit und Ausblick

Ob und in welchem Umfang sich das Modell der integrierten Versorgung als zukunftssicher erweisen wird, lässt sich aktuell nicht prognostizieren. Sicherlich stellt das Honorarvolumen der integrierten Versorgung gegenüber dem Gesamtvolumen der von den Krankenkassen zu leistenden Ausgaben nur einen geringen Anteil dar. Aus Sicht des Autors bleibt jedenfalls zu hoffen, dass der Gesetzgeber den Mut haben wird, weitere Deregulierungen des ärztlichen Vergütungssystems zu entwickeln.

Verträge zur integrierten Versorgung von 2004 bis 2008

Im Zeitraum von 2004 bis 2008 wurden der Gemeinsamen Registrierungsstelle zur Umsetzung des § 140 d SGB V (BQS) insgesamt gut 6.400 Meldungen zu Integrationsverträgen vorgelegt. Die Verträge wurden überwiegend unbefristet abgeschlossen. In rund zwei Drittel der gemeldeten Verträge waren niedergelassene Leistungserbringer, in rund 50% der gemeldeten Verträge stationäre Leistungserbringer als direkter Vertragspartner beteiligt. Für das Jahr 2008 rechneten die Krankenkassen mit 4 Millionen teilnehmenden Versicherten und Ausgaben in Höhe von 811 Mio. Euro. Bezüglich des Vertragsgegenstandes der Verträge dominieren Verträge zur integrationsübergreifenden Versorgung sowie zum ambulanten Operieren. Bezogen auf das Vergütungsvolumen dominieren Versorgungsangebote zur Durchführung kardiologischer, neurochirurgischer sowie orthopädisch-unfallchirurgischer Leistungen. Auf Leistungserbringerseite wurden von sämtlichen Verträgen ca. 30% allein mit niedergelassenen (Vertrags-)Ärzten geschlossen. Nach dem Gesetz sind auch Leistungserbringer-Kombinationen (beispielsweise Verträge zwischen Krankenkassen und niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern) zulässig. Rechnet man alle Vertragspartner-Kombinationen, in denen niedergelassene Ärzte vertreten sind, zusammen, beträgt ihr Anteil an den Versorgungsverträgen sogar 64%. Der Anteil der allein mit Krankenhäusern geschlossenen Verträge beträgt demgegenüber 16%, in den verschiedenen Kombinationen 54%. Der Anteil der Krankenhäuser ist im Vergleich zu den übrigen Leistungserbringern in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Auf Seiten der Kostenträger wurde ungefähr die Hälfte der gemeldeten Verträge von einer Krankenkasse allein, die andere Hälfte von mehreren Krankenkassen im Verbund geschlossen. Das durchschnittliche Vergütungsvolumen pro teilnehmendem Versicherten betrug im Zeitraum 2004 bis 2008 ca. 200 Euro. Das Gesamtvolumen der Ausgaben der Krankenkassen im Bereich der integrierten Versorgung betrug im Zeitraum 2004 bis 2008 ca. 2,2 Mrd. Euro (Quelle: www.bqs-register140d.de).

Stand: Februar 2010

Rechtsanwalt Dr. jur. Alexander Böck

Lenzhalde 53
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